Harald Kimpel

Honig – Grundstoff einer fluiden Ästhetik
Harald Kimpel, 2022, Vortrag in der Karlskirche Kassel

Wer auf der Suche nach der wahren, schönen und echten Kunst im documenta-Jahr 2022 in die Karlskirche gefunden hat, wird nicht mit Kunsthonig abgespeist. Denn was hier aus dem „Honighimmel“ tropft – und auf direktem Weg ein Oben mit einem Unten verbindet, ortsangemessener gesagt: den Himmel mit der Erde, oder geradeheraus: die Sphäre des Göttlichen mit der des Weltlichen –, ist ein ganz besondrer Saft: Echter Bienenhonig zeigt uns an, dass das verheißene Land, in dem Milch und Honig fließen, irgendwo dort oben liegt. Es ist (noch) außer Sicht, bezeugt aber seine Existenz durch die Emanation jenes goldenen Strahls, aus unsichtbarer Quelle gespeist: einer Schnur von Perlen, die auf dem Boden der irdischen Tatsachen aufgefangen und in goldenem Gefäß geborgen werden: sichtbarer Beweis, dass der Himmel voller Honig hängt – und dass er davon abgibt: in Form des Versprechen einer nicht abreißenden Verbindungslinie, dünn zwar, gefährdet, aber beständig – wodurch der dünne Faden zur tragenden Säule des Hauses wird. Erprobt hatte Sonja Meller diesen perligen Hoffnungsschimmer – die visuelle Erklärung des Unerklärlichen – bereits 2019 in der Salzburger Kollegienkirche. Doch nur hier in der Karlskirche verbindet sich über Idee und Sachverhalt der Perle die Installation mit dem benachbarten Kunstprojekt in St. Elisabeth, wo Birthe Blauth ihr „Poem of Pearls“ gleichfalls in einer Schale im Zentrum des Kirchenschiffs präsentiert und in eine Rauminszenierung mit spiritueller Aussage einbindet. Und nur hier in Kassel wird ein gewagter Vergleich möglich: wird augenfällig, dass die vertikale Orientierung des honig- bzw. messingfarbenen Strangs wie Walter De Marias „Vertikaler Erdkilometer“ die Menschen über sich und ihre Position im Kosmos nachdenken lässt.

„Mit Essen spielt man nicht“, lautet ein Grund-Satz der restriktiven Pädagogik. Aber man kann Kunst damit machen. Eine ganze Richtung, die sich „Eat-Art“ nennt, praktiziert seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts den kreativen Umgang mit Nahrungs-, Lebens- und Genussmitteln – heutzutage von der Disziplin der „Ernährungsethik“ eher skeptisch beäugt und überhaupt weitgehend zum Schickeria-Phänomen des Food-Designs heruntergekommen. Was hier, in der Karlskirche, herunterkommt, ist von anderer Qualität. Mit diesem pfingstlichen Herabströmen einer heilsamen Substanz bedient sich Sonja Meller eines kostbaren Materials mit sehr speziellen Eigenschaften: nicht nur physikalischen, sondern insbesondere auch jenen mythischen, die die Bedingung seiner Eignung im Rahmen ästhetischer Theorie und Praxis sind. Und die Künstlerin steht damit keineswegs allein. Sie bindet sich ein in eine kreative Tradition, die den Naturstoff zum Kunststoff transsubstantiiert. Ihr Einsatz des Honigs im religiösen Zusammenhang und vor dem Hintergrund des Sakralen soll daher den Ausgangspunkt markieren für etwas ausgreifendere Beobachtungen zur Frage, welche Rolle dieser Substanz im eher profanen Kunstkontext zukommt. Denn ab Mitte des 20. Jahrhunderts wird bei der Fahndung nach neuen Ausdrucksformen ein Nahrungs- und Genussmittel von Künstlerinnen und Künstlern entdeckt und auf seine Eignung als Material und Thema ästhetischer Konzepte experimentell erprobt. Es lässt sich die Biene nicht träumen, was ihr Produkt der Menschenwelt bedeuten kann: Ein Naturstoff erfährt aufgrund seiner Herkunft, seiner spezifischen Eigenschaften und seiner mythischen Qualitäten eine Bedeutungsaufladung, die im Argumentationszusammenhang einer fluiden Ästhetik vielfältige und durchaus divergente Anwendungen ermöglicht. Mit reichhaltigen Assoziationen behaftet, mit schwerwiegenden Funktionen belastet, dienstbar gemacht für symbolische Programmatiken und politische Statements, wird Honig als Medium künstlerischer Aussagen signifikant. „Honig verkörpert die flüssige Moderne“, wie es die Kasseler Biotechnologin und Künstlerin Andrea Nehring kürzlich auf den Punkt brachte. Solchen Materialeinsätzen möchte ich im Folgenden anhand von Beispielen nachspüren: der Ikonografie des Honigs, mit der immer auch – explizit oder verschwiegen – die Hoffnung verknüpft ist, Kunst und Natur miteinander zu verbinden, um nicht zu sagen: zu versöhnen.


Bevor jedoch das Genussmittel genossen (und als Kunstmittel instrumentalisiert) werden kann, muss es zunächst einmal beschafft werden. Und das geht seit jeher grundsätzlich nur durch einen Akt der Enteignung und Entwendung. Am Anfang steht also der Diebstahl. Das hatte bereits LUCAS CRANACH d. Ä. bildlich erfasst: „Venus mit Amor als Honigdieb“, 1534, Öl auf Holz, 49,5 x 34 cm, Fränkisches Museum Kronach (der Kunstgeschichte in ca. 30 Varianten bekannt). Dargestellt ist eine herzzerreißende Geschichte. Wir sehen den kleinen Amor, der aus dem hohlen Stamm eines Apfelbaums eine Honigwabe stibitzt hat. Das lassen sich die Bienen nicht gefallen und bestrafen den Frechen mit schmerzhaften Stichen – worüber sich Amor wiederum bei seiner Mutter Venus beklagt. Die Darstellung beruht auf einem Gedicht des griechischen Poeten Theokritos aus dem 3. vorchristlichen Jahrhundert, demzufolge Venus in moralisierend/pädagogischer Manier den Knaben darüber belehrt, dass auch er den Menschen mit seinen Pfeilen Schmerzen zugefügt habe. Unter dem Pinsel des Malers aber wird die antike Erbauungsgeschichte zu einer reformatorischen Moralpredigt: gegen das Naschen verbotener Substanzen, das seit Adams Zeiten zu den streng zu büßenden Taten gehört, gegen den Genuss also und letztlich gegen die allgegenwärtige Versuchung.

So verstanden, zeugt sich das Thema dieses protestantischen Lehrbildes fort, bis es in einem Frühwerk von WILHELM BUSCH (wenig bekannterweise einem Experten für das Imkereiwesen) deutlich schärfere Formen annimmt. Seine Verurteilung des hemmungslosen Zugriffs auf anderleuts Eigentum in dem „Münchner Bilderbogen“ von 1859, betitelt „Die kleinen Honigdiebe“, ist ein Stück Pädagogik der schwärzesten Art: Peterl und Maxerl wagen es, auf der Suche nach dem süßen Seim sich am Bienenstock des Nachbarn zu vergreifen. Die Folgen sind fatal – man mag gar nicht hinsehen. Beide werden bis zur Unkenntlichkeit zerstochen. Ihre Köpfe schwellen an, bis schließlich der Schmied („ein resolvierter Mann“) die Stacheln mit der Zange ausreißen muss. Einen „ordentlichen Denkzettel“ nennt die protestantische Ethik so etwas Mitte des 19. Jahrhunderts: eine Bestrafung für die Verfehlung, der Verlockung nachgegeben zu haben, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Überhaupt hält es Busch mit diesen Insekten und ihren Produkten. In der Episode „Schnurrdiburr und die Bienen“ (1869) geht es ebenfalls um Honigdiebe und andere Schwerenöter. Das 7. Kapitel führt uns in ähnlicher Drastik das gereimte Schicksal des Knaben Eugen vor Augen:

Der Knabe Eugen, der indessen
Aufs Honigessen ganz versessen,
Gedenkt denselben ganz verstohlen
Aus Dralles Körbchen sich zu holen.
Ojemine! Ein ganzes Korps
Von Bienen rückt auf einmal vor,
Und pudelrau ist der Eugen
Vom Kopf bis zu den Zeh’n.

Erlösung bietet hier nicht der robuste Schmied mit der Zange, sondern der Sturz in den See. Aber wie immer bei Busch steht auch hier die Strafe im eklatanten Missverhältnis zur Tat.

Ungeahndet – im Gegensatz zu Peterl und Maxerl – bleibt die Plünderung des Bienenstocks, wenn sie sich im kirchlichen Raum mit theologischen Aussagen verbündet: wenn das Honigschlecken nicht verdammt, sondern im Gegenteil genüsslich zur Schau gestellt und regelrecht heiliggesprochen wird: wie z.B. in der Wallfahrtskirche Birnau am Bodensee, wo der Rokoko-Putto des „Honigschleckers“ von JOSEPH ANTON FEUCHTMEYER (1870) am Altar des Hl. Bernhard von Clairvaux auf dessen Qualität als begabter Prediger verweist, dem die süßen Worte wie Honig aus dem Munde flossen.

Ebenso straflos – wenn auch deutlich später und weniger sakral in Anspruch genommen – kommt „Winnie-the-Pooh“ davon: jener Bär, der nicht nur von „sehr geringem Verstand“, sondern außerdem honigsüchtig ist. Seit 1926 ist „Pu der Bär“ (nach dem Kinderbuch von Alan Alexander Milne und den Illustrationen von E. H. SHEPARD und 1961 in die Hände von Walt Disney gefallen) beständig auf der Suche nach dem Süßstoff. Doch wird auch ihm keineswegs übel mitgespielt. Mit den Bienen gut Freund, schwimmt und schwelgt er im Element seiner Begierde: im Schlaraffenland des Bären-Paradieses.

Doch von solchen Infantilitäten zurück zum ernsthafteren Umgang mit dem Bienenprodukt. Denn bevor der Honig genascht werden kann – ob von Amor, Bär oder Mensch –, muss das Genussmittel überhaupt erst einmal als ein solches entdeckt werden. Einen diesbezüglichen Vorgang schildert der florentinische Maler PIERO DI COSIMO: „Bacchus entdeckt den Honig“, auch „Der Honigfund“ genannt, um 1500, Öl auf Holz, 79,2 x 128,4 cm, Worchester Art Museum, Massachusetts, USA.

Dargestellt sind der Gott des Weines zusammen mit Ariadne im Vordergrund rechts, umgeben von einer Schar Satyrn und Mänaden, die Lärm schlagen, um einen sie verfolgenden Bienenschwarm in einen hohlen Baumstamm zu locken. Bei dieser Gelegenheit wird der Honig entdeckt (der nach seiner Verwandlung in Met geeignet ist, bacchantischen Festen zu erweiterter Stimmung zu verhelfen). Die mythologische Darstellung geht zurück auf Ovids Gedicht „Fasti“, das kurz zuvor in Florenz publiziert wurde: „Selber den Honig zuerst fand nach der Sage der Gott.“ Doch wie bei einem renaissancistischen Bildkonzept nicht anders zu erwarten, ist auch diese bukolische Szene mehr als eine ländlich-südliche Burleske: vielmehr eine symbolische Darstellung der künstlerischen Tätigkeit, indem sie nämlich daran erinnert, dass – so der aktuelle Interpretationsstand – „Bienen und Honig seit der Antike als Metaphern für die Entstehung von Dichtung“, für „Wesen und Funktion des Dichters“ und seines Produktes stehen. (Christine Patz) Das Museum selbst sieht in dieser Auftragsarbeit der Vespucci-Familie mit der Entdeckung und Nutzbarmachung des Honigs einen bedeutenden Schritt in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit und des zivilisatorischen Fortschritts, da sich eine wilde, unwirtliche Berglandschaft (auf der rechten Bildseite) einer idyllischen Stadtlandschaft (auf der linken) gegenübergestellt findet. Das Zwillingsbild (vom selben Maler aus demselben Jahr) zeigt den weniger glücklichen Ausgang einer Honigsuche – und bringt uns zurück zu Wilhelm Busch und seinen Rachephantasien: Beim „Missgeschick des Silen“ (Fogg Art Museum, Cambridge, Massachusetts, USA) gerät dieser auf der gierigen Suche nach der Süßigkeit an ein Hornissennest. Der Arme wird prompt tausendfach gestochen, der Ast, an dem er sich festhält, bricht ab, er fällt vom Esel, verrenkt sich das Knie und die Kette der Misshelligkeiten nimmt kein Ende…

Faul, wie er eben so sitzt auf des Esels gebogenem Rücken,
Bindet er fest an des Baums riesigen Borken das Tier.
Oben sich stellt er darauf, und, sich haltend am ästigen Stamme,
Sucht in der Höhle Versteck gierig den Honig er auf.
Hornissen schwärmen zu tausend hervor, und sie bohren den Stachel
Tief in die Glatze hinein, zeichnend das Affengesicht.
Jählings fällt er herab, und es schlägt mit dem Huf ihn der Esel;
Ringsher rennen die Satyrn herzu und verlachen des Alten
Dickes Gesicht. Der zieht hinkend den schmerzenden Fuß.
Selber der Gott lacht auf, und sich Lehm auflegen ihn heißt er.
Jener gehorcht und mit Lehm schmiert er das ganze Gesicht.

Wohin der Honig-Hunger führen kann! Und wer den Schaden hat, braucht bekanntlich für den Spott – selbst den eines Gottes – nicht zu sorgen. Ein Bild der Schadenfreude ist dies also, von der auch die Götter der Antike, denen ja nichts Menschliches fremd ist, nicht frei sind. Schadenfreude wird, so der Germanist Peter von Matt, „ausgelöst durch einen plötzlichen Riß in der realen oder angemaßten Überlegenheit eines anderen“: einen Riss, über den hier der faktisch Überlegene, der Gott, sich zu Recht amüsieren kann.

Doch zurück zu uns Normalsterblichen und -sprachlichen, zum Material selbst, zu jener gelobten Kunst, in der Milch und Honig fließen, zur Rolle des Stoffs in der zeitgenössischen Ästhetik: zu seiner Entwicklung vom Dargestellten zum Mittel der Darstellung. Wie immer aber schiebt sich auch hier die Theorie vor die Praxis: Denn während sich die Kunst durch Anwendung das Material verfügbar macht, tut es die Philosophie durch Denken. „Es ist der Honig in meinen Adern, der mein Blut dicker und meine Seele stiller macht. (…) Ja, meine Thiere, (…) ihr rathet trefflich und mir nach dem Herzen: ich will heute auf einen hohen Berg steigen! Aber sorgt, dass dort Honig mir zur Hand sei, gelber, weisser, guter, eisfrischer Waben-Goldhonig. Denn wisset, ich will droben das Honig-Opfer bringen“, lässt Friedrich Nietzsche seinen Zarathustra sagen. Eine aktuelle Deutung dieser Passage besagt, „dass man den Honig aus den Adern Zarathustras nicht wegdenken kann, ebenso wenig wie das aufschlussreiche Kapitel über das Honigopfer aus der Gesamtkomposition des Zarathustra, da diese die Grundpfeiler der gesamten Religionsproblematik sind, wie auch der Antwort auf die Frage nach dem Willen zur Macht und dem absoluten Anspruch des Christentums sowie des notwendigen Zusammenbruchs desselben und dem damit ‚sinnvoll’ werdenden und konsequent zu praktizierenden Nihilismus.“ (Janina Schmiedel) Soviel zu Nietzsche. Eine ausführliche Würdigung seines Verhältnisses zum Honig wäre ein Vortrag für sich.

Mutmaßlich aber ist es eben diese Passage, die Salvador Dali 1927 zu seinem Bild „Honig ist süßer als Blut“ – und damit zu seinem ersten surrealistischen Gemälde – verleitet. Der rätselhafte Titel stammt angeblich vom Dichter Federico Garcia Lorca (dessen abgeschlagenes Haupt halb im Sand steckend dargestellt ist). Das Bild ist verschollen, eine Ölskizze dazu ist erhalten. Den Honig – oder auch nur darauf hinweisende Elemente – suchen wir darin so vergeblich wie das Blut. Er wird dort Bestandteil der surrealistischen Metaphorik, von der programmgemäß kein vernünftiger Realitätsbezug zu erwarten ist (weswegen sich hier eine weitere Bildanalyse erübrigt).

Bei Theodore Dreiser hingegen ist es nicht das Blut, sondern ein anderer Köperteil, der vom Honig affiziert ist. Bei ihm ist zu lesen: „Kunst ist der konservierte Honig der menschlichen Seele, der auf Flügeln des Elends und der Not gesammelt wurde.“ Das sehen nicht alle so: Für Jean-Paul Sartre zum Beispiel gehört der Honig zur Kategorie des Klebrigen und somit des Ekligen, des Abscheuerregenden, ja des Horrors. Sartres diesbezügliche Ausführungen in „Sein und Zeit“ gehören zu den bedenklicheren Seiten des Philosophen, die selbst von seinen Adepten nur irritiert zur Kenntnis genommen werden. Honig ist ihm nämlich „nicht geheuer, weil das Flüssigsein bei ihm verlangsamt existiert; es ist Verdickung des Flüssigseins.“ Sartre sieht in ihm „einen beginnenden Triumph des Festen über das Flüssige. (…) Nichts bezeugt den nicht geheuren Charakter einer ‚Substanz zwischen zwei Zuständen‘ besser als die Langsamkeit, mit der das Klebrige mit sich selbst verschmilzt. (…) Das Klebrige erscheint wie eine im Alptraum gesehene Flüssigkeit, deren Eigenschaften sich alle mit einer Art Leben beseelten und gegen mich richteten. Schon im Wahrnehmen des Klebrigen, einer klebenden kompromittierenden Substanz ohne Gleichgewicht, ist so etwas wie die Angst vor der Metamorphose. Das Klebrige berühren heißt Gefahr laufen, sich in Klebrigkeit aufzulösen. (...) Das Grauen vor dem Klebrigen ist das Grauen davor, daß die Zeit klebrig wird.“ Und so weiter…

Von derartigen Empfindlichkeiten ist der prominenteste Konsument, und derjenige, der den Stoff am konsequentesten künstlerisch einsetzt und am komplexesten handhabt, nicht infiziert. Gemeint ist – das wird nicht verwundern – JOSEPH BEUYS, der sich (nicht allein über den Honig) zur „Zentralfigur der Lebensmittelkunst im 20. Jahrhundert“ entwickelt hat. Seine Karriere ist unmittelbar mit der Karriere jenes Naturstoffs zum Kunststoff verbunden. Wie bei keinem anderen Kunsteinsatz erfährt der Honig bei ihm ein Upgrade zur geistigen Nahrung, zugleich gilt er als wärmeerzeugendes und energiereiches Material im System seiner individuellen Stofflichkeitslehre. Die sämige Flüssigkeit gehört bereits zur biografischen Tatarenlegende, mit der sich der Künstler eines seiner künftigen Primärmaterialien regelrecht auf den Leib schreibt: Filz, Fett und eben Honig als Mittel der Ersten Hilfe kamen angeblich am Absturzort auf der Krim durch die nomadische Bevölkerung zur Anwendung. Vom Filz bedeckt, mit Rindertalg eingerieben und mit Honig genährt, hat den havarierten Weltkriegspiloten das wirkmächtige Überlebensmittel mit seiner natürlichen Heilkraft sozusagen mit Haut und Haar erfasst; es klebt an ihm für den Rest seines Künstlerlebens und bestimmt seine Karriere essenziell. Mittlerweile als Mystifikation entlarvt, wird jedenfalls in dieser Erzählung der Honig als Mythos in der Kunst des 20. Jahrhunderts – und als Basis eines völlig neuen Verständnisses des plastischen Prinzips – erstmals manifest. Bereits 1952 hatte Beuys in den „Bienenkönigin“ genannten Wachsplastiken die Leitprinzipien seines individuellen Kunstbegriffs zum Ausdruck gebracht: „Wärme“ und „Kälte“ als Kategorien der Kunst, die Idee des „Bienenstaates“ als utopisches Funktionsideal, die Biene mit ihrer Produktion von Wachs und Honig als Metapher für menschliche Arbeit – Überlegungen, Symbole und Materialien also, die in seiner weiteren Werkentwicklung eine entscheidende Rolle spielen sollten. Das Beispiel Biene soll uns lehren: Kollektives Produzieren führt zum Erfolg – eine Behauptung, die nicht zufällig an die aktuelle documenta erinnert, die nun allerdings so gar nichts mit dem sieben Jahrzehnte lang in Kassel propagierten westlichen Kunstbegriff, den Joseph Beuys in Reinkultur vertritt, zu tun haben möchte. Geschmacksfragen hingegen sind für Beuys nicht relevant. Der Honig erfüllt für ihn stattdessen eine zentrale Funktion im Rahmen seiner alchimistisch/schamanischen Materialästhetik. Er strapaziert die mythischen Qualitäten, die eher zum geistigen Konsum gedacht sind. Aber er entwendet nicht, sondern bittet um eine Spende: „Gib mir Honig!“ – ein Aufruf, den er in zahlreichen Varianten wiederholt – und, wie wir sehen werden, auch dringend nötig hat. 1979 signiert er einen Blecheimer mit Honig, um damit dieses Lebensmittel insgesamt zum Kunststoff zu veredeln, und in zahlreichen Multiples beglaubigt er seinen Anspruch auf das Material durch seine Unterschrift. „Gib mir Honig!“ Was Beuys damit tut, wenn er ihn hat, zeigt er bei seiner legendären Performance „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“. Am 26. November 1965 kippt er sich (verständlicherweise ohne Hut) in der Düsseldorfer Galerie Schmela einen großen Topf Honig über den Kopf. Danach belegt er die klebrige Schicht mit Blattgold. Dergestalt maskiert redet er drei Stunden lang vor ausgesperrtem Publikum auf das leblose Tier ein, zeigt ihm seine Bildwerke und bemüht sich so – wenn auch vergebens – um die Wiederbelebung des Symbols der Inkarnation mittels Kunst. „Mit Honig auf dem Kopf“, erklärt der gescheiterte Reanimateur, „tue ich natürlich etwas, was mit Denken zu tun hat. Die menschliche Fähigkeit ist, nicht Honig abzugeben, sondern zu denken, Ideen abzugeben. (…) Denn Honig ist zweifellos eine lebendige Substanz. Der menschliche Gedanke kann auch lebendig sein“, usw. usw. im Jargon des (damals bereits provokant) erweiterten Kunstbegriffs. Der Künstler als Biene also: Wie diese sammelt er mit sprichwörtlichem Bienenfleiß Gedanken und gibt sie in Form von Ideen an die Allgemeinheit weiter.

Das Verfahren reizt zur Parodie. Zum Beispiel: Die Performance „Wie ein Hase einem toten Beuys die Bilder erklärt“ ist Teil des Projekts „Hasen in der kapitalistischen Moderne“ des Berliner Kunstduos „bankleer“ im Hamburger Bahnhof Berlin 2010; bei „How to Explain Pictures to a Living Fat Cat“ handelt es sich um eine Adaption durch die „Fat Cat Art Gallery“, die in die Kunstwerke der Welt – von der Höhlenmalerei bis zur Gegenwart – geschickt eine fette Katze einschmuggelt (https://fatcatart.com/2013/02/kak-obyasnyat-kartiny-tolstomu-kotu/?lang=en). Und das Verfahren reizt zur Nachahmung: 2021 erlaubt sich der Oberhausener Fotograf Klaus Jost mit seinem Künstlerkollegen Friedhelm Holstein den Versuch einer illegitimen Reprise (https://jostmail.myportfolio.com/exhibitions).

Doch war es bereits MARINA ABRAMOVIC, die Pionierin der körperbezogenen Aktionskunst, die 2005 die ikonisch gewordene Kulthandlung des Düsseldorfer Tierschamanen im New Yorker Guggenheim Museum wiederaufführte. Mit ihrem Reenactment im Rahmen von sieben Wiederaufnahmen maßstabsetzender Aktionen von Künstlerinnen und Künstlern der vergangenen Jahrzehnte wollte die „Mutter der Body Art“ (mittlerweile sich selbst als „Großmutter“ titulierend) noch einmal auf ihre performerische Tradition verweisen und zugleich ihr eigenes Anspruchsniveau auf diesem Sektor markieren. Etwas geschmäcklerisch wird es allerdings, wenn sie 2012 das Beuys abgelauschte und an sich selbst vollzogene Honig/Blattgold-Verfahren auf Hollywood-Schönling James Franco überträgt. Bei dieser Hommage an den Hasenlehrer wird nicht mehr einem toten Tier eine Bildererklärung zuteil, sondern einem lebenden Filmstar zu weiteren Erfolgsbildern verholfen. Der Honig als Schmiermittel der Aktionskunst wird hier zum geschmeidigen Karriere-Instrument. Zuvor war die radikale Performance-Künstlerin ganz anders mit sich umgesprungen. In der Innsbrucker Galerie Krinzinger hatte sie selbst eine solche gattungsgeschichtlich maßgebliche Aktion kreiert und nicht weniger enigmatisch als Beuys mit Honig hantiert: 1975, kurz nachdem sie Jugoslawien verlassen hat und am Beginn ihrer gesundheitsgefährdenden Kunstlaufbahn steht, betritt sie nackt die Bühne der Galerie. Langsam löffelt sie nicht weniger als 1 Kilo Honig aus einem Glas. Dieser zweifelhafte Genuss ist jedoch nur der Auftakt zu weiterem strapaziösem Geschehen: Anschließend trinkt sie 1 Liter Wein, um sich so gestärkt mit einer Rasierklinge ein blutiges Pentagramm in die Bauchdecke zu ritzen und noch weiter selbstquälerisch mit sich zu verfahren – so lange, bis das Publikum es nicht mehr erträgt, selbst aktiv wird und die Performerin hinter die Bühne in Sicherheit bringt. Schon der Verzehr des Honigs in dieser Menge (1 kg ist der Pro-Kopf-Jahresverbrauch der Deutschen) schlägt also in Quälerei um: „Zu viel Honig essen ist nicht gut“, lautete der Spar-Appell des Predigers Salomo in einem seiner Sprüche, bei dem die Moral gleich nachgeliefert wird: „Ebenso spare mit ehrenden Worten!“ Das soll hier gern geschehen – aber wir kommen nicht um den ehrenden Hinweis herum, dass sich bei Abramovic stets die Ritualisierung von Alltagshandlungen mit Spiritualität – wenn auch ohne eindeutige religiöse Bindungen – verknüpft. So ist auch ihr Honigverzehr eingebettet in ein Kasteiungsritual, das mit dem übertriebenen Genuss beginnt und mit Selbstgeißelung und einer Bettung auf ein Kreuz aus Eisblöcken noch lange nicht endet und auf komplexe Weise die christliche Ikonografie bemüht: Die Akteurin agiert mit Versatzstücken der Eucharistie – einer Eucharistie ohne Christentum freilich. Ihr selbstverantwortetes Abendmahl mündet in symbolische Selbstaufopferung. In diesem quasireligiösen Milieu der stummen Performance meint der Honig nicht – wie traditionell im christlichen Zusammenhang – das Wort Gottes, nicht die Süße des Paradieses, nicht die seit biblischen Zeiten utopische Hoffnung auf ein Leben in existenzsorgenfreiem Überfluss. Doch stehen auch hier Honig und Wein für Geist und Körper, für Weisheit und Blut – und letzteres tritt in der Performance ausreichend zu Tage. Auch diese spektakuläre Selbstverletzung führt Marina Abramovic 2005 im Zusammenhang ihrer Guggenheim-Serie „Seven Easy Pieces“ noch einmal auf. Und beide Veranstaltungen werden später Thema von Video-Installationen bei verschiedenen Ausstellungsgelegenheit.

Doch zurück zu Kassel – und zum Mythos Beuys: Der macht uns unter anderem bewusst, dass wir es beim Honig mit einer Materie zu tun haben, die skulptural äußerst ungeeignet ist: die sich (im Gegensatz zu ihrem Pendant, dem Wachs) nicht in Form bringen und halten lässt, die einem durch die Finger rinnt und somit apparativer Assistenz bedarf, um als dreidimensional gestaltbarer Kunststoff Verwendung zu finden – im Extremfall einer ganzen Maschinerie: der „Honigpumpe“. Seinen großen Auftritt hat das Material nämlich 1977 im Kreislaufsystem jener Großinstallation, die unter dem Titel „Honigpumpe am Arbeitsplatz“ in die Geschichte nicht nur der Kasseler Weltkunstausstellung eingegangen ist. Denn während Beuys bei Manfred Schneckenburgers „Mediendocumenta“ im Erdgeschoss des Fridericianums mit der „Freien Internationalen Universität“ (FIU) eine 100-Tage-Dauerperformance praktiziert, installiert er am tiefsten Punkt des Ausstellungshauses, auf dem Grund der Treppenhaus-Halbrotunde, von den Stufen her einsehbar, einen doppelt bestückten Maschinenraum. Einerseits rotiert dort eine mit Elektromotoren angetriebene Kupferwelle langsam durch einen Berg aus Margarine: der Arbeitsplatz. Gleichzeitig durchzieht von dort ausgehend ein 170 Meter langes Schlauch- und Röhrensystem das Museum: die „Honigpumpe“. 150 Kilo Langnese-Honig werden bis unter das Dach des Ausstellungsgebäudes transportiert, um in Windungen den Diskursraum der FIU zu durchströmen. In diesem Kreislauf sind Menschen und Themen durch einen kreativen Prozess miteinander verbunden. Symbolisch vollzieht sich hier die Bildung jener „Sozialen Plastik“, die gemeinhin „die Gesellschaft“ genannt wird. Dieser Zirkulationsprozess ist im Sinne des Erfinders mit vielfältiger Bedeutung belastet: Blutkreislauf und Geldkreislauf, Kapital und Wirtschaftswerte finden sich unter anderem darin aufgehoben. Und in diesem System ist auch die 6. documenta als ein sozialer Organismus entworfen, in dem sich die unterschiedlichen Kunstpositionen harmonisch zu einer Gesamtaussage verbinden mögen. So versöhnt Kunst die Widersprüche in der Gesellschaft. Das Gepumpte ist kollektiver Klebstoff, dem Zusammenhalt und der Zusammenarbeit von Individuen dienlich. Die Apparatur insgesamt fungiert als das mechanistische Abbild der Gesellschaft – einer idealen, erst noch zu schaffenden allerdings. So steht auch dieses Gemeinwesen, in dem wennschon nicht Milch, dann doch zumindest Honig fließt, in den Sternen. „Mit der Honigpumpe“, erläutert ihr Erfinder, „drücke ich das Prinzip der Freien Internationalen Universität aus, im Blutkreislauf der Gesellschaft zu arbeiten. In das Herzorgan – dem stählernen Honigbehälter – hinein und aus ihm heraus fließen die Hauptarterien, durch die der Honig mit einem pulsierenden Ton aus dem Maschinenraum gepumpt wird (...) und zum Herzen zurückkehrt. Das ganze Gebilde wird erst vervollständigt durch die Menschen im Raum, um den die Honigarterie herumfließt.“ Allerdings muss die zähflüssige Masse (Sartres „Substanz zwischen zwei Zuständen“), um ihre harmonisierende Aufgabe erfüllen zu können, mit destilliertem Wasser verdünnt werden. Denn es stellen sich zunächst technische Fragen: wie die, ob überhaupt eine solche Menge in den beabsichtigten räumlichen Dimensionen gepumpt werden kann – ist doch hier nicht (wie bei Sonja Mellers „Honighimmel“) die Schwerkraft hilfreich, sondern diese muss überwunden werden. In technischen Fragen aber sind Künstler, selbst wenn es sich um weltberühmte handelt, nicht immer beschlagen. Beuys löst das mechanische Problem mit Unterstützung eines Pumpenherstellers in Wangen (Allgäu), der für die Anforderungen im Fridericianum eine maßgefertigte Spezialanfertigung entwickelt. Überflüssig, zu erwähnen, dass die mehr oder weniger flüssigen Überbleibsel dieses Kreislaufsystems – wie die vieler anderer Beuys-Projekte – umgehend als Resteverwertung in den Kunstmarkt eingespeist werden.

Ein derart technischer Aufwand war zwei documenta-Versionen zuvor noch nicht gefragt. 1968 aber hatte der soziale Treibstoff bereits eine kritische Rolle gespielt. Bei der Pressekonferenz im Magistratssaal des Kasseler Rathauses kommt es nämlich am Vorabend zur Eröffnung der 4. documenta zu einem Eklat, der als die „Honig-Aktion“ die Skandalgeschichte der Weltkunstausstellung bereichert hat: Im zunächst störungsfrei verlaufenden Standardritual zwischen Medienvertreten und Ausstellungsverantwortlichen machen sich zunehmend Personen bemerkbar, die sich durch gelbe Armbinden mit drei schwarzen Punkten auszeichnen und in Zwischenrufen die Ratsmitglieder veralteter Kunstanschauungen bezichtigen. Als dann aus der Menge der Störer ein Transparent hochgeht – „Prof. Bode! Wir Blinden danken für die schöne Ausstellung“ –, leert Fluxus-Künstler Wolf Vostell einen Beutel mit Pfennigen auf den Magistratstisch (gedacht als Pensionsaufbesserung für Arnold Bode). Anschließend gießt die Düsseldorfer Künstlerin Chris Reinecke ein Glas Honig darüber aus (gedacht als Kritik an dem obligatorischen Eröffnungssalbader), streut Zucker über die Stühle der Ratsherren und versucht sie reihum zu küssen. Für diese kreative Honig-Verschwendung werden ihr prompt Reinigungskosten in Höhe von 27,35 DM in Rechnung gestellt werden. Da jedoch zunächst die Adresse der Attentäterin nicht ermittelbar ist, kümmert sich in Düsseldorf das 14. Polizeikommissariat, zuständig für Hochverrat, Staatsgefährdung, Spionage, Sabotage, Attentate und Menschenraub um die Angelegenheit. Jedenfalls hatte mit Hilfe des Honigs die Kunstform des Happenings, der die offizielle Teilnahme an der „jüngsten documenta, die es je gab“ offizielle verwehrt war, ihren Eingang doch noch – und wirkungsvoll vor versammelter Weltpresse – erschlichen. Vostells Armbinde wird inzwischen im Kölner Zentralarchiv des internationalen Kunsthandels aufbewahrt – vom Honigglas ist diesbezüglich nichts bekannt.

Nicht alle Künstler haben ein solch innig/alchimistisches Verhältnis zum Produkt des Bienenfleißes wie Joseph Beuys. Die Verwendung von Honig in der Kunst ist allemal Geschmackssache. Und dabei bleiben gelegentlich Geschmacklosigkeiten nicht aus. Wir kommen daher an etwas Unappetitlichem nicht vorbei: am chinesischen Künstler ZHANG HUAN (Jahrgang 1965), von der zeitgenössischen Kunstkritik als „Schockperformer“ etikettiert, der mit seinen Ekelprojekten „Klassiker der chinesischen Kunstgeschichte“ geschaffen habe – so zumindest das Magazin ART. Mit seinen Handlungen in Extremsituationen mit physischer Gefährdung agiert er sich in die Tradition der westlichen Aktionskunst-Strategien hinein. 1994 demonstriert auch er, dass das Leben von Performance-Aktivisten kein Honigschlecken ist. Er nutzt den süßen Stoff als Medium des scharfen Protests: Für die Performance „12 m?“ reibt er seinen nackten Körper mit Honig und Fischöl ein, um sich dann eine Stunde lang auf einer übel verschmutzten öffentlichen Toilette in Beijing als menschliche Fliegenfalle zu präsentieren. Nachdem sein Körper vollständig mit Insekten besetzt ist, reinigt er sich in einem nahegelegen Tümpel. Die bewegungslose Sitzung, bei der der Künstler spürt, wie die Insekten sich am Honig gütlich tun, bedeutet für ihn trotz der spektakulären Umstände eine Übung in Zen-Buddhistischer Meditation durch körperliche Disziplin. Nebenbei nimmt der Herr der Fliegen selbstverständlich auch explizit auf Beuys Bezug. Doch im Gegensatz zu dessen schamanischer Ritualisierung geht es Zhang Huan um die konkrete Thematisierung sozialer Lebensumstände in China: um einen Protest gegen die Verwahrlosung öffentlicher Einrichtungen in seinem Land. Doch die Interpretationen, die sich mit der Aktion verknüpfen, reichen noch weiter: Denen zufolge repräsentiert der junge Künstler mit dem Honig und den in kannibalische Raubtiere verwandelten Insekten jene Zwänge, die der Kunst in China von einer Gesellschaft auferlegt werden, die in den 1990er-Jahren im Begriff ist, in eine neue wirtschaftliche, soziale und politische Ära einzutreten.

2002 kommt es im Hamburger Kunstverein zu einer ähnlichen – wenngleich deutlich kürzeren und weniger protesthaltigen – Performance. Für „Seeds of Hamburg“ bedeckt Zhang Huan seinen Körper ebenfalls mit Honig und wälzt sich anschließend in Sonnenblumenkernen. So ausstaffiert betritt er einen Käfig aus Maschendraht mit einem entlaubten Maulbeerbaum und einer Art Thron aus Holzkisten darin. In diese Voliere werden nach und nach 28 Tauben eingelassen, die ihm die Kerne vom Leib picken, um nach 40 Minuten wieder freigelassen zu werden. Im Gegensatz zu dem spektakulären Honig-Einsatz von 1994 ist hier eine eher positive Perspektive gemeint: ein Symbol der Hoffnung, Wiedergeburt und Freiheit, wenn die Vögel das von seinem Körper entnommene Saatgut in die Welt tragen.

Unerwarteter Weise kann die weiche Substanz aber auch im harten politischen Tageskampf eingesetzt werden: ausgerechnet in Deutschland. Die Aktivisten des Künstlerkollektivs ZENTRUM FÜR POLITISCHE SCHÖNHEIT haben 2018 – nach den rechtsradikalen Demonstrationen in Chemnitz – im Rahmen dessen, was sie als „die größte Entnazifizierung des Landes seit 1945“ bezeichnet haben, hunderte Neo-Nazis identifiziert und im Internet steckbriefartig öffentlich angeprangert. Die selbsternannte „Soko Chemnitz“ – ihr Symbol ist das wohlgefüllte Honigglas – konnte auf die Mithilfe der Betroffenen zählen, die bei dieser technisch hochkomplexen Mission auf eine falsche Fährte gelockt wurden. Dieses Verfahren nennt sich in Rahmen der Cyber-Sicherheit „Honeypot“: eine Einrichtung, „die einen Angreifer oder Feind vom eigentlichen Ziel ablenken oder in einen Bereich hineinziehen soll, der ihn sonst nicht interessiert hätte – z.B. in Form eines Scheinzieles.“ Also so, wie man mit einem Honigtopf einen Bären von seinem bienenstockplündernden Ansinnen ablenken oder in die Falle locken kann.

Weder politischer Protest noch paradiesische Erwartung, weder Religion noch Meditation sind im Spiel, wenn sich eine ebenso spektakuläre wie beliebte künstlerische Praxis des Stoffes bemächtigt. Argumentierte Marina Abramovics Verinnerlichung noch mit 1 Kilo, steigern wir jetzt mal die Menge auf 4 Kilo bei äußerlicher Anwendung. Die nämlich verwendet die Leipziger Foto- und Aktionskünstlerin CARINA BRANDES bei ihrem ganz anderen Umgang mit dem Honig. In einer ihrer Selbstinszenierungen lässt sie ihn 2018 langsam und zäh über Kopf und Körper rinnen. Wie bei ihren anderen körperbetonten performativen Handlungen fotografiert sich die ehemalige Kunstturnerin bei ihrem Honig-Aufguss mit Selbstauslöser, analog und in Schwarzweiß. Mit ihren Selbstporträts präsentiert sich Carina Brandes in zumeist surreal-geheimnisvollen Posen oder Situationen, wie in Standfotos aus einem rätselhaften, nur assoziativ deutbaren prozessualen Ablauf.

Die 4 Kilo wiederum sind nichts gegen den verschwenderischen Umgang, den ab 2012 ein US-amerikanischer Fotograf mit der natürlichen Ressource betreibt. BLAKE LITTLE, der die Aufmerksamkeit seiner Kamera seit jeher auf populäre Motive – wie Hollywood-Stars und andere Promis – richtete, hatte eine Idee, für die der Honig nicht konsumiert, sondern auf dem Altar der Kunst geopfert wird: Wochenverbrauch 500 kg. Für seine Serie „Preservation“ setzt er seine Models einer Honigdusche aus. Menschen aller Altersklassen – vom Kleinkind bis zur 85-jährigen Frau und schließlich auch ein Hund – werden einer Konservierungsmaßnahme mit fotografischer Fixierung unterzogen. Ziel der klebrigen Prozedur des Honig-Pygmalion es ist, seine Opfer in Statuen, wie in Bernstein eingeschlossen, zu verwandeln – und diese wiederum in zweidimensionale Bilder: „Eingeschlossen in den Honig werden die Personen zu Figuren in ausdrucksstarken Bildern.“ Keine vorgeschriebenen Posen werden bei dieser Bildhauerei mit Flüssigkeit festgehalten, sondern die spontanen körperlichen Reaktionen auf die Honig-Attacke. „Der Honig verdeckt den Ausdruck der Augen“, beobachtet der Fotograf. „Doch jedes Model reagiert unterschiedlich auf diese Erfahrung des Übergießens und erzeugt eine neue, individuelle Emotion als Porträt.“ Für Little hat die visuelle Völlerei einen entindividualisierenden, einen anonymisierenden Effekt, den er sogar mit Demokratisierung gleichsetzt. Und zur Bedeutungsaufwertung trägt die Absicht bei, an die Prinzipien der antiken Skulptur anzuknüpfen; insbesondere denkt er dabei an die durch Gipsausgießung erhalten gebliebenen Körperformen der Menschen von Pompei. Das Konservierungsgeschäft erweist sich als überaus lukrativ. Die Medien zeigen sich – wie in einer Besprechung zu lesen – fasziniert davon, „wie der Honig Körperformen gleichermaßen glättet und verzerrt und gleichzeitig Unsterblichkeit und Tod suggeriert“. Inzwischen über 100 Mal praktiziert, wirkt jedoch das Verfahren in seiner unbegrenzten Wiederholbarkeit auf Dauer eher langweilig. Kein Wunder auch, dass diese Methode des Skulpturierens als mutwillige Verschleuderung natürlichen Kapitals angeprangert wird. Vor der Erkenntnis, dass eine Biene während ihres gesamten Bienenleben etwa 9 g Honig zustande bringt, bleibt ein unguter Geschmack angesichts der Süßstoff-Katarakte des Fotografen. Der künstlerische Ansatz, in dem das so mühsam hergestellte tierische Produkt so inflationär ausgeschüttet wird, macht diesen Umgang mit Honig zum Musterbeispiel einer Kultur nicht des nährenden Überflusses, sondern der Verschwendung und des Ressourcenverschleißes. Glaubt man jedoch dem Internet, so hat sich das sogenannte „Honey-Shooting“ zu einer beliebten Strategie der Körperoptimierung entwickelt.

Von hier aus ist es kein weiter Weg zu den visuell ähnlichen, allerdings medial elaborierteren Exerzitien des Malers MIKE DARGAS – ehemals Kölsche Jung, heute Erfolgskünstler in L.A. Was Little für die Fotografie, ist Dargas für die fotorealistische Malerei. Denn er geht noch einen Schritt weiter. Während ersterer beim Akt des Übergießens die Ganzkörperlichkeit betont, konzentriert sich letzterer in seiner Serie „Liquids“ auf das Gesicht; während Little sich mit dem Einsatz der Kamera zufriedengibt, verwandelt Dargas seine begossenen – und doch wohl ebenfalls fotografierten – Models in großformatige Öl-Porträts. Den Schütt-Aktionen verleiht er eine höherwertigere Qualität durch die Transformation des Fotos zum Gemälde. Und während Little in seiner Rechtfertigungsrhetorik den Prozess des Übergießens betont, den er fotografisch auf Dauer stellt, kapriziert sich Dargas auf den Malvorgang; über den Bekleckerungsprozess hingegen schweigt er sich aus. Und auch Dargas verbrämt seine Glitschigkeiten mit süßen Worten. Die möchte ich hier zitieren, denn von selbst wäre man wohl nicht so leicht darauf gekommen: „Dargas fordert uns heraus, einen tieferen Blick zu werfen, die Natur des Menschen zu verstehen und unsere eigene emotionale Wahrnehmung zu hinterfragen“, lässt er auf seiner Website schreiben: „Wenn die Flüssigkeit das Modell bedeckt, wird ein authentischer Ausdruck offenbart. Es ist, als ob der Honig demütig macht und eine Verletzlichkeit schafft, die es ermöglicht, wahre und echte Emotionen an die Oberfläche zu bringen. Bei diesem Prozess gibt es kein Verstecken, und die Wahrheit zu entdecken, ist das, wonach Mike mit seinen Kreationen strebt. Unter die Oberfläche der Dinge zu kommen. Er versucht, diese Magie einzufangen und die Heiligkeit des Augenblicks zu bewahren. In allem, was existiert, steckt viel mehr, und das gilt besonders für seine Kunst. Da muss man hineinfühlen. Selbstliebe ist ein großes Thema seiner Werke. Über sich selbst nachzudenken und Glück im Inneren zu finden, ist das, woran er uns erinnern möchte. Wenn wir uns selbst lieben und uns selbst heilen können, können wir wiederum die Welt heilen. Mikes Kunst ist Ausdruck seiner Liebe und seines Traums, die Welt durch seine Kunst zu heilen.“ Wer’s glaubt, wird selig – und wer nicht, kann sich mit dem Missverständnis im fotorealistischen Konzept des malenden Fotografen trösten: Beim Fotorealismus – entwickelt zu Beginn der 1970er-Jahre – ist die Akribie des malerischen Reproduzierens der fotografisch erzeugten Wirklichkeitsabbildung darauf aus, gerade die Unterschiede zwischen der abgebildeten Realität und den Abbildungsmodalitäten der Kamera herauszuarbeiten. Hier aber geht es nicht um erhellende Differenz, sondern um bloße Identität: so identisch wie irgend möglich…

Ein weiterer, im glitschigen Milieu tätiger Künstler ist PAUL STOWE aus England. Zwar geht er es mit seinen Bleistiftzeichnungen technisch etwas unaufwändiger an, aber ikonografisch fügt er sich ein in die Kategorie der Honeydripper, bei denen – unter dem Deckmäntelchen des Fotorealismus – der Honigeinsatz zu einer schlüpfrigen Angelegenheit wird.

Und wenn wir nun schon bei der populären Alltagsästhetik gelandet sind, darf der Comic-Sektor nicht fehlen: Daher – der Vollständigkeit halber – der Hinweis auf „Gun Honey“, eine amerikanische Graphic-Novel-Serie um die Waffenschmugglerin Joanna Tan, bei deren Ausgabe von 2022 der Cover-Illustrator Stanley Lau den Titel überaus wörtlich nimmt.

Der mit Honig gepflasterte Weg von der renaissancistischen Hochkunst zur zeitgenössischen Eben-gerade-noch-Kunst (oder Vielleicht-schon-nicht-mehr-Kunst) zeigt, auf welch vielgestaltige Weise die Kreativität sich eines Stoffes bemächtigt, dessen Eigenschaften dazu verleiten, ihn symbolisch zu strapazieren. Ich danke Ihnen, dass sie mit mir dem goldenen Ariadne-Faden durch das Labyrinth des Süßstoffs gefolgt sind: um zu sehen, dass – möglicherweise im Kontrast zu den eigenen Konsumgewohnheiten – einer Kunst, in der Milch und Honig fließen, ganz andere Darreichungsformen zu Gebote stehen.

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